«--- zurück zum Menü


Cancel Culture ist kein Studentenulk.
Es ist eine neue Form des Extremismus

Eric Gujer, Chefredaktor der "Neuen ZĂŒrcher Zeitung".
NZZ

12.08.2022, 05.30 Uhr

Radikale KrÀfte wollen an UniversitÀten eine neue Zensur durchsetzen. Solche Gesinnungspolizei steht gerade in Deutschland in einer Tradition des Ungeistes - dennoch wird sie noch immer verharmlost. Die Statue des Historikers und NobelpreistrÀgers Theodor Mommsen nach einer Demonstration an der Humboldt-UniversitÀt in Berlin.

Wenn eine hasenfĂŒssige UniversitĂ€tsleitung, wie an der Humboldt-UniversitĂ€t in Berlin geschehen, vor dem studentischen Mob einknickt und einen Vortrag absagt, ertönt unfehlbar der beruhigende Hinweis: So schlimm wie in den USA oder allenfalls noch Grossbritannien ist es hierzulande mit der Cancel-Culture nicht.

Das stimmt. So schlimm wie in den USA, wo inzwischen viele Professoren aus Angst vor forschen Antirassisten und Gender-Polizisten schweigen, ist es in Deutschland nicht. Auch wurde noch keine Professorin aus der UniversitÀt gedrÀngt, weil sie auf zwei biologischen Geschlechtern beharrte, wie Kathleen Stock in England.

Dennoch gibt es GrĂŒnde, das vorĂŒbergehende Auftrittsverbot fĂŒr Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-UniversitĂ€t und andere Ă€hnliche Vorkommnisse nicht als EinzelfĂ€lle zu behandeln. Das vielleicht beste Argument ist die deutsche Geschichte. In den dreissiger Jahren war Deutschland ein Vorreiter der Cancel-Culture - und zwar vor der Machtergreifung Hitlers.

Die jungen Wilden gewinnen gegen die alten Ängstlichen

Wie es damals an den UniversitĂ€ten zuging, berichtet Golo Mann in seinen "Erinnerungen und Gedanken" aus Heidelberg, wo der Sohn Thomas Manns einige Semester verbrachte. Im Herbst 1930 erhielt dort der Mathematiker Emil Julius Gumbel eine Professur. Er war ein rotes Tuch fĂŒr die Nazis, die im Studentenausschuss, dem Asta, die Mehrheit besassen. Gumbel war Jude, Pazifist und hatte sich einen Namen gemacht als Autor eines Buches ĂŒber die auf dem rechten Auge blinde Justiz der Weimarer Republik.

Gegen die Ernennung brach ein Empörungssturm los, der bald den Namen "Gumbel-Krawalle" trug. Der Asta inszenierte einen Boykott, um die Entlassung zu erzwingen. AnfÀnglich stand die Professorenschaft noch zu ihrem Kollegen, nicht ohne den sÀuerlichen Hinweis auf dessen "unerfreuliche Persönlichkeit und Gesinnung".

Doch schon im Jahr darauf verlor Gumbel seine Lehrbefugnis. Er emigrierte nach Frankreich und spĂ€ter in die USA. Nach Kriegsende verweigerte man ihm in Heidelberg die erhoffte Wiederanstellung. UniversitĂ€ten sind BĂŒrokratien; diese pflegen trĂ€ge und feige zu sein. Daran hat sich bis heute nichts geĂ€ndert.

Gumbel war kein Einzelfall in Heidelberg. Ähnliches widerfuhr dem Theologen GĂŒnther Dehn, einem bekennenden Sozialisten und Pazifisten. Er konnte die ihm zugesagte Professorenstelle nicht antreten, da die FakultĂ€t Proteste fĂŒrchtete. Golo Mann kommentierte die AffĂ€re 1931 mit Worten, die wie eine gegenwĂ€rtige Abrechnung mit dem Verhalten der Humboldt-UniversitĂ€t klingen. BeschĂ€mend sei, "dass die FakultĂ€t nicht einmal vor aktuellem Terror, sondern vor der Möglichkeit zukĂŒnftigen Terrors gekniffen hat".

In Berlin kapitulierte man jetzt wie ein Jahrhundert zuvor in Heidelberg vorauseilend vor potenzieller Randale. Es scheint jedes Mal dasselbe zu sein, wenn studentische RadikalitĂ€t auf professorales RuhebedĂŒrfnis trifft. Die jungen Wilden siegen ĂŒber die alten Ängstlichen.

Die Cancel-Culture der Weimarer Republik endete am 30. Januar 1933. Aus dem Radau einer Minderheit wurde Staatsterrorismus. Nicht mehr Extremisten bekÀmpften die Verfassungsordnung, der Staat selbst war der erste und oberste Extremist.

Die UniversitÀten werden zu Orten der Zensur

Wiederholt sich die Geschichte? Deutschland ist eine junge, aber starke Demokratie, so wie die USA eine alte, aber noch immer vitale Demokratie sind. An der Cancel-Culture gehen diese Demokratien nicht zugrunde, so wenig wie an Massnahmenkritikern und Putin-Verstehern. Aber es lohnt sich, wachsam zu bleiben, was sich an UniversitĂ€ten zusammenbraut, denn diese sind FrĂŒhwarnsysteme fĂŒr gesellschaftliche Fehlentwicklungen.

Noch nie zweifelten so viele Deutsche an der Meinungsfreiheit

Antworten der Umfrage-Teilnehmer auf die Frage "Haben Sie das GefĂŒhl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann?" (in Prozent)

Bis 1990: Westdeutschland; an 100 fehlende Prozent: "mit EinschrÀnkungen", unentschieden.
Nach ParteianhĂ€ngerschaft: Nur GrĂŒnen- und Unions-AnhĂ€nger haben noch mehrheitlich das GefĂŒhl, dass man seine Meinung frei sagen kann.
Stand: Juni 2021
Quelle: Allensbach
NZZ / sih.

Das historische Beispiel zeigt, wohin das Kesseltreiben gegen Personen und Ideen fĂŒhren kann. Auf dem Platz vor der Humboldt-UniversitĂ€t erinnert heute ein Kunstwerk an die BĂŒcherverbrennungen der Nazis, denen auch Gumbels Buch zum Opfer fiel. Man hĂ€lt sich in Deutschland also zugute, die Vergangenheit als Mahnung fĂŒr die Gegenwart zu begreifen.

Der Respekt vor der Geschichte sollte dazu fĂŒhren, dass man Cancel-Culture als das bezeichnet, was sie ist: eine neue Form von Extremismus. Der aus dem Englischen importierte Begriff ist ein Euphemismus, die absichtliche Beschönigung von akademischen Hexenjagden. In Deutschland sollte sich das verbieten.

"Wehret den AnfÀngen" ist kein schlechtes Motto. Es hat sich im Umgang mit Neonazis bewÀhrt. Es ist auch der richtige Wahlspruch, wenn wieder Minderheiten deutsche UniversitÀten zu okkupieren versuchen, um missliebige Ansichten auszumerzen.

Wenn der entfesselte Zeitgeist zuschlĂ€gt wie in der Hetzkampagne gegen die britische Feministin Kathleen Stock, stehen Ruf und Existenz auf dem Spiel. Selbst in Deutschland, wo noch niemand seine Professur verlor, bleibt immer etwas hĂ€ngen: mindestens das dĂŒmmste Adjektiv der deutschen Sprache. Die Davongekommenen gelten fortan als "umstritten" - die Berliner Professoren Herfried MĂŒnkler und Jörg Baberowski, beide völlig unumstrittene KoryphĂ€en ihres Fachs, können ein Lied davon singen.

Nach jedem Vorfall wird die erstaunte Frage gestellt, warum sich das ausgerechnet an UniversitĂ€ten ereigne, den Orten des freien Denkens. Die Gegenfrage mĂŒsste lauten: wo sonst, wenn nicht an UniversitĂ€ten? Wo neue Ideen entstehen, wĂ€chst auch der Wille, die Zweifler und Opponenten der reinen Lehre mundtot zu machen.

Das freie Denken und sein Gegenteil, Zensur und Dogmatismus, treten oft zusammen auf. Das ist die negative Dialektik des akademischen Fortschritts. Nicht nur zu Golo Manns Zeiten war das so, sondern auch wÀhrend der Studentenunruhen 1968.

Das PhÀnomen verlÀuft wellenförmig, nur die Inhalte wechseln. Heute sind es IdentitÀtspolitik, militanter Antirassismus und eine Gender-Ideologie, die alles Geschlechtliche zu rein sozialen Konstrukten erklÀrt. In den sechziger Jahren war es ein doktrinÀrer Neomarxismus, der Vorlesungen störte und Institute besetzte. Mancher Asta, nun eben rot statt braun lackiert, organisierte wie drei Jahrzehnte zuvor Boykott-Aktionen.

Die Cancel-Culture wird noch immer beschönigt

Ins Fadenkreuz der Gender-Ideologen geraten heute besonders traditionell argumentierende Feministinnen und Lesben wie Kathleen Stock. In den sechziger Jahren richtete sich die Wut der Marxisten gegen andere Marxisten. Der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW) war der Àrgste Feind des Kommunistischen Bundes (KB). Extremismus funktioniert immer nach denselben Regeln.

Zugleich gedeiht Extremismus nur mithilfe von Beschwichtigern in Rektoraten und Redaktionen. Sie wiegeln ab, wo Nulltoleranz geboten wĂ€re. Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" scheint in dieses Lager ĂŒbergelaufen zu sein. Sie spöttelt ĂŒber "Kampagnenmedien der Anti-Cancel-Kultur", obwohl das Thema bĂŒrgerlich-akademische Kreise intensiv beschĂ€ftigt. Sonst hĂ€tten sich kaum Forscher und Forscherinnen im "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" zusammengefunden, um, wie sie selbst sagen, "die Prinzipien der AufklĂ€rung zu verteidigen".

Wer sich gegen eine gesellschaftliche Fehlentwicklung stemmt, fĂŒhrt keine Kampagne. Eine Kampagne kann nur der erkennen, der die Fehlentwicklung nicht sieht oder sie bewusst kleinredet.

Das Argument der Euphemisten lautet stets, "Cancel-Culture" gebe es eigentlich nicht; es handle sich um aufgebauschte EinzelfĂ€lle. Mit derselben Logik ließe sich behaupten, es gebe keinen Rechtsextremismus, sondern eine FĂŒlle von EinzelfĂ€llen.

Wer Extremismus zu einer Frage der Zahl erklÀrt, verkennt zudem den dahinterstehenden Ungeist, also das Wirkprinzip. Menschenrechte wie Rede- und Forschungsfreiheit sind unteilbar und nicht erst dann in Gefahr, wenn sie massenhaft verletzt werden. Dann ist es ohnehin meist zu spÀt zur Gegenwehr.

Zum Wesen von Extremismus gehört, dass er sich ausbreitet, wenn man ihm nicht entgegentritt - aber nicht "mit allen Mitteln" von Justiz und Verfassungsschutz, wie es angesichts der Proteste von Impfgegnern hieß, sondern mit Augenmaß und Zivilcourage.

Maßlosigkeit gehört zum Instrumentarium von Extremisten, deren Gegner sollten sich daran kein Vorbild nehmen. Gute Argumente sind im politischen Kampf nachhaltiger als die Androhung von Strafen und die Beobachtung durch den Geheimdienst. Die politische Auseinandersetzung mit Extremisten ist daher das Gegenteil einer Kampagne, sie ist leidenschaftliches Engagement fĂŒr Freiheit und Demokratie.


Quelle: NZZ


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 20.03.2024 - 18:13